Der Beitrag von Ulrike Guérot im Überblick

Eine Europäische Republik als Vision

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Die Europäische Union darf sich stolz als Träger des Friedensnobelpreises bezeichnen. Mit der Verleihung des Preises im Jahr 2012 hat das Komitee die Verdienste um den Frieden in Europa gewürdigt. Noch nie in der Geschichte des Kontinents gab es eine so lange Friedensperiode auf dem Gebiet der EU. Doch trotz all dieser Erfolge fällt in der aktuellen Debatte schnell auf: Europa steckt in einer tiefen Krise.

Die Frage nach Europa spaltet derzeit die Gesellschaften der Nationen.

Der langwierige Brexit, das Erstarken antieuropäischer Populisten sowie Rechtsbrüche in Polen und Ungarn zeigen, dass die Idee der Europäischen Union starker Kritik ausgesetzt ist. Im Vordergrund steht die Frage „Wer ist eigentlich der Souverän in Europa, wer trifft die Entscheidungen?“ Im öffentlichen Diskurs über diese berechtigten Fragen wird über Neugründung gesprochen. Doch eine Neugründung beinhaltet gleichzeitig das Scheitern des vorangegangenen Konzepts. Europa ist mit dem Maastrichter Vertrag auf dem richtigen Weg und das Etappenziel der Staatenunion ist erreicht. Was fehlt, um diese Union zu vervollständigen, ist die Bürgerunion.

Ein genauerer Blick auf die Argumente der Europa-Gegner offenbart deren Ängste vor einer kulturellen Vereinheitlichung. Dem folgt ein strukturelles Problem mit dem Subsidiaritäts-Prinzip, welches kurzgefasst besagt: Die Europäische Union soll sich heraushalten, wenn eine Aufgabe auch von staatlicher Ebene abwärts bewältigt werden kann. Aber ist das sinnvoll? Demokratie funktioniert nur mit Beteiligung, nicht mit Heraushalten. Dieses Prinzip steht der Rechtsgleichheit gegenüber, gefordert ist hier ein Souverän.

Doch wer ist der Souverän in Europa? Diese Frage spaltet zurzeit die Gesellschaften der Union. Die Rechtssetzung und die Durchsetzung des Rechts sind nicht mehr eindeutig definiert. Mitgliedsstaaten versuchen, sich europäischen Entscheidungen zu entziehen. Aber eine Rechtsgemeinschaft, die das Recht nicht durchsetzen kann, die keine Verfassung hat, ist keine europäische Demokratie. Wenn sowohl die Nationalstaaten als auch die Europäische Rechtsgemeinschaft die Rechtsetzung beanspruchen, arbeiten sie gegeneinander. Dies wirft die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, alle Demokratien der EU in eine gemeinsame europäische Demokratie zu überführen.

Die Antwort auf die Frage ist nicht eine Neugründung der Europäischen Union, sondern eine Komplettierung. Was fehlt, ist ein gemeinsames Haushaltsrecht, gestützt von drei klassischen demokratietheoretischen Grundsätzen – der Steuergesetze, der Legitimität des Parlaments und des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes. Auf diesem Weg kann die traditionelle Rechtsgemeinschaft in eine europäische Demokratie überführt werden.

Aber um eine Union der Bürger, eine sogenannte europäische Demokratie zu erreichen, müssen alle Bürgerinnen und Bürger zusammen entscheiden. Sie müssen der Souverän des politischen Systems Europa sein. Denn erst der Akt der „allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl“ formt sie zu einer politischen Einheit. Der Ist-Zustand allerdings zeigt, dass es keine Rechtsgleichheit der Bürgerinnen und Bürger Europas bei Wahlen, Steuern und dem Zugang zu sozialen Rechten gibt. Zur Behebung dieses Demokratiedefizits müssen sie politisch aufgewertet werden. Im Zuge der Herstellung europäischer Souveränität bedeutet dies auch die Auflösung des Europäischen Rates in seiner jetzigen Form hin zu einer vollständigen Parlamentarisierung der EU-Systeme inklusive der Gewaltenteilung. Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz eint die Demokratien der Mitgliedsstaaten, das Mantra Europas „Einheit in Vielfalt“ wandelt sich dann in „normative Einheit bei kultureller Vielfalt“. Dies führt letztendlich in eine Europäische Republik, die die Bedeutung des Bürgers in einer europäischen Demokratie normativ festlegt und den anfänglich genannten Kritikpunkten entgegenwirkt.

Das Ziel ist ein politisierter europäischer Rechtsraum, der alle Bürgerinnen und Bürger umfasst, sie vor dem Recht als gleich zu behandeln ansieht, und zwar ungeachtet von Herkunft oder Kultur.

Dieser Raum wäre ein vollendetes Europa mit einem Markt, einer Währung und einer Demokratie. Eine europäische Demokratie mit den Bürgerinnen und Bürger als Souverän, mit einem Parlament, das die Entscheidungen trifft und einer Gewaltenteilung, die diese umsetzt. Die Europäische Solidarität wäre damit institutionalisiert und eine Bürgerunion geschaffen.

Diesen Beitrag lesen Sie in voller Länge im Buch Weiter. Denken. Ordnen. Gestalten, das im September beim Siedler Verlag erschienen ist.

Hören Sie zu diesem Thema auch den Podcast mit Ulrike Guérot!

Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems und Gründerin des European Democracy Labs. Sie arbeitet zum Schwerpunkt Europa, insbesondere zur Frage der Zukunft der europäischen Demokratie.