Anstatt sie zu schwächen, stärkt die EU die Nationalstaaten. Sie ist die Brücke zwischen Nationalstaat und Globalisierung. Nur sie erlaubt, Souveränität auszuüben.
Henrik Enderlein lehrt an der Hertie School of Governance in Berlin Politische Ökonomie und ist Präsident der Hochschule. Der Europäische Integrationsgedanke zählt nicht nur zu seinen Schwerpunktthemen, sondern auch zu seiner Überzeugung: „Die EU schafft für die Nationalstaaten zusätzliche Freiheit und Optionen.“ Das ist aus Sicht Henrik Enderleins in letzter Zeit zu sehr aus dem Blick geraten. Wie in einem Basketball-Team können die europäischen Staaten auf dem Weltmarkt nur gemeinsam den großen Wurf machen. Alleine sind die kleinen Staaten ökonomisch im Vergleich zu den USA und China schwach. Doch Fakt ist, sagt Enderlein: „Inzwischen sehen viele Menschen in der EU ein Konstrukt, das die Hyper-Ökonomisierung unserer Gesellschaften befördert hat und deren offenes Wirtschaftsmodell mehr Schaden als Nutzen in den Nationalstaat gebracht hat.“
Linke wie rechte Kräfte in Europa argumentieren gegen den Europäischen Integrationsgedanken. Henrik Enderlein identifiziert neben dieser problematischen Achse noch eine zweite: die Auseinandersetzung über eine offene oder geschlossene Gesellschaft. Wollen wir offene Gesellschaften und Pluralität oder geschlossene Grenzen und Protektionismus zum Schutz unseres Wohlstands? Diese Auseinandersetzung der Öffnung oder Schließung spaltet Gesellschaften bis in die Parteien – nicht nur in Europa.
Die Europäische Union ist im Zuge dieser Debatte nun in die Verteidigungsstellung geraten. „Verteidigt wird gern das Friedensprojekt, das Projekt der Verständigung von Völkern. Aber wer jubelt einem Binnenmarkt oder einer Währungsunion zu?“, fragt Henrik Enderlein. Vor allem die sozialdemokratischen Volksparteien in vielen Ländern Europas haben scheinbar Schwierigkeiten mit dem europäischen Gedanken: Die starke ökonomische Ausrichtung der europäischen Integration passt nicht zum sozialdemokratischen Grundgedanken. In den 1990er-Jahren hatten westliche Sozialdemokratien noch versucht, den „Dritten Weg“ als Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus einzuschlagen (Tony Blair mit „New Labour“ oder Gerhard Schröder mit „Neue Mitte“) – jetzt orientiert sich die Sozialdemokratie wieder stärker nach links.
Wie wir Europäer die EU wieder aus der Defensive bekommen und ihre Kernwerte betonen, erläutert Henrik Enderlein in seinem Beitrag für das Buch „Weiter. Denken. Ordnen. Gestalten“, das im September erschienen ist.
Bereits jetzt können Sie ihn im Podcast „Weitergedacht“ hören, in dem er mit Ulrike Guérot die Zukunft Europas diskutiert: „Europäische Union – kleiner Schritt oder großer Wurf.“