Gefährdet Künstliche Intelligenz die menschliche Vernunft?

Der Beitrag von Henry Kissinger im Überblick

Künstliche Intelligenz
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Mit dem asiatischen Brettspiel „Go“ fing es für Henry Kissinger vor ein paar Jahren an. Auf einer Konferenz zu transatlantischen Fragen blieb der einstige Außenminister der USA (1973 – 1977) an einem Programmpunkt hängen: Künstliche Intelligenz. Eigentlich nicht das Thema des Politikers und Friedensnobelpreisträgers, der noch mit 96 Jahren auf der politischen Bühne als Berater präsent ist. Doch der Beginn des Vortrags hielt den Deutsch-Amerikaner neugierig auf seinem Platz.

Ein wachsender Teil des menschlichen Lebens wird innerhalb eines absehbaren Zeitraums durch KI-Algorithmen gesteuert werden.

Der Redner berichtete stolz, dass einem Computer die Regeln des Strategie-Spiels einprogrammiert wurden – und dieser allein durch permanentes selbständiges Üben in der Lage war, die besten „Go“-Spieler der Welt zu schlagen. Was wird demnach aus dem menschlichen Bewusstsein, wenn seine eigene Erklärungskraft von der KI übertroffen wird? Was wird aus dem reflektierenden, abwägenden Denken, wenn wir jede Information bequem im Internet abrufen können, fragt Kissinger und findet, dass wir über diese Fragen viel zu wenig debattieren. Für ihn stellen Internet und Künstliche Intelligenz deswegen nicht nur den verheißungsvollen Fortschritt dar: „Wie die Aufklärung endet“, hat er seinen Aufsatz deshalb provokativ übertitelt.

Henry Kissinger sieht die Gefahr, dass die Menschheit durch „Künstliche Intelligenz“ das gleiche Schicksal wie die Inkas erleiden könnte: Als diese von den Spaniern mit ihrer höher entwickelten Kultur erobert wurden, gingen die Inkas unter.

Als zweites Problem benennt er, dass bereits heute das Internet unser Denken verändert. Im Mittelalter prägte der Glaube das Denken der Menschen maßgeblich, im Zeitalter der Aufklärung folgte die Vernunft mit ihrer klaren analytischen Herangehensweise – nun sieht Kissinger diesen kritischen, analytischen Verstand durch das Internet, durch Daten und Algorithmen in Gefahr: „Die Nutzer des Internets legen mehr Wert auf das Abrufen und Verarbeiten von Informationen als auf das Einordnen und Erklären ihrer Bedeutung.“ Hinzu kommt: „Individuen werden zu Daten, und Daten werden beherrschend.“

Adieu Selbstreflexion – willkommen postfaktisches Zeitalter, in dem sich aufgeheizte Meinungen im Internet verstärken, tatsächliche Fakten aus dem Blick geraten und vor allem angebliche „Fakten“ seltener hinterfragt werden. „Die Auswirkungen auf die Politik sind besonders groß“, fürchtet Kissinger. Nicht nur Kunden werden zu Daten, sondern auch Wähler werden Daten.

Wenn die Technologie immer mehr unseren Alltag bestimmt, müssen wir jetzt diskutieren, wie wir unsere Individualität bewahren wollen: unsere Privatsphäre, unsere Werte – und unsere Vernunft, diese Welt mit klugen Gedanken mitzugestalten, sagt der 96-Jährige. Damit letztendlich Menschen Maschinen lenken und nicht Maschinen Menschen.

 

Die Auswirkungen auf die Politik sind besonders groß.“
Henry Kissinger
Henry Kissinger

Henry Kissinger war von 1973 bis 1977 Außenminister der USA. Der Deutsch-Amerikaner erhielt für seine Rolle bei der Beendigung des Vietnamkrieges den Friedensnobelpreis. Kissinger lebt in den USA und ist weiterhin auf der politischen Bühne als Berater präsent.

Henry Kissinger