Alfred Herrhausen zur Demokratie

Aus dem Buch Denken_Ordnen_Gestalten

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Den folgenden Text hat Alfred Herrhausen im Jahr 1971 verfasst. Er stammt aus dem Kapitel “Verantwortung in der Gesellschaft”, welches das erste Kapitel im Buch “Denken_Ordnen_Gestalten” ist. Der folgende Auszug wird sich auch im neuen Buch (Weiter. Denken. Ordnen. Gestalten.) wiederfinden.

Unsere Demokratie ist völlig unpathetisch – sie ist als Staatsform schlicht und trivial.

Die Jahrzehnte um die letzte Jahrhundertwende verliefen in dem politischen Rahmen, den das verwegene Spiel Bismarcks geschaffen hatte: im neuen Deutschen Reich, dem lange ersehnten, endlich erreichten Ziel. Hier fand während der Jahrzehnte, die man im Rückblick gewiss fälschlich als glückliche und unbeschwerte Friedenszeit bezeichnet, die revolutionäre »Veränderung nach innen« statt: Bevölkerungsvermehrung, Entstehung großer Städte, soziale Umschichtung, Schrumpfung der Landwirtschaft, Abhängigwerden der Nation vom Außenhandel und alle anderen typischen Erscheinungen der Moderne. Aus einem Volk von Bauern machte die Geschichte ein Volk von Arbeitern und Angestellten, aus dem buntscheckigen Nebeneinander großer und kleiner König- und Herzogtümer den deutschen Nationalstaat – als letzten unter seinesgleichen in Europa.

Und schon begannen die Wolken überheblichen Strebens nach Vorherrschaft über die Nachbarn dunkle Schatten zu werfen. Im ersten Weltkrieg entlud sich, was an falsch verstandener politischer Selbstverwirklichungsidee in zu kurzer Zeit – die Geschichte hat einen eigenen Kalender – aufgestaut worden war. Dieses Ideal hatte sich bei uns später formiert als im übrigen Europa. Es reichte deshalb nicht tief genug hinab in die älteren Schichten echter europäischer Gesinnung, wo es mit Gelassenheit hätte reifen können. Daher die Explosion von 1914, die offenkundig werden ließ, wie brüchig das Reich von innen und außen war.

Der Katastrophe von 1918 folgte nach dem Chaos des Untergangs Weimar, es eröffnete sich für Deutschland ein erstes Mal der Weg, echtem demokratischen Leben weiten Raum zu verschaffen, den Un-Sinn der militärischen Lösungsversuche in einen sinnvollen Frieden zu verwandeln. Die Chance wurde nicht genutzt oder besser: sie wurde schnell wieder verspielt.

Die nur kurze Zeit der ersten Demokratie schuf eine Scheinblüte, die rasch zu Ende ging. Der Ruf nach Stabilisierung und neuem nationalen Aufstieg erreichte die falschen Propheten. Wieder folgten Krieg, Zerstörung und diesmal ein Ende, das schrecklicher nicht gedacht werden konnte.

 

Demokratie in Deutschland – der zweite Versuch

 

Seitdem proben wir nun ein zweites Mal die Demokratie. Werden wir diesmal die Probe besser bestehen? Wird es diesmal gelingen, die Gefahren zu umschiffen und die Möglichkeiten zu nutzen? Können wir darauf bauen, jetzt Grundlagen zu legen, die tragfähiger sind als diejenigen, die in Schutt und Asche fielen? Dürfen wir hoffen oder müssen wir ein weiteres Mal resignieren, weil der Krieg immer noch nicht abgeschafft, echter Friede immer noch nicht begründet ist? Niemand weiß die Antwort – auch ich kann sie nicht geben. Wir können nur gemeinsam prüfen, forschen und untersuchen; denn Diagnose steht vor der Therapie, erst muß man Krankheiten erkennen, dann kann man sie heilen.

Was ist unsere heutige Wirklichkeit, was geht in ihr, was geht in uns vor? Offenbar machen sich Unsicherheit und Unglauben breit, zeigen sich allenthalben Zweifel, Fragen, Befürchtungen. Warum bewegt oft echte Resignation die Menschen, weshalb beschleicht uns Unbehagen, die einen bewußt, die anderen, zahlreicheren, unbewußt? Sind wir plötzlich nicht mehr zufrieden mit der Welt, die wir uns selbst aufgebaut haben, fühlen wir uns in ihr nicht mehr zu Hause?

Die schmerzliche, typisch deutsche Erfahrung, daß nichts lange Bestand gehabt hat in unserer Geschichte, kann es nicht sein, was uns mißtrauisch eine Änderung erwarten läßt. Das Gefühl der skeptischen Ungeduld ist weltweit, überall spürbar – im Westen wie im Osten. Es zeigt sich an verschiedenen Orten auf verschiedene Art und bleibt doch im Grunde gleich. Wie kommt das, was ist die Ursache? Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück, was wir seit Kriegsende erfahren, getan und versäumt haben:

Damals war – so merkwürdig das klingen mag – unsere Welt einfach und ohne Wahl. Sie lag buchstäblich in Trümmern. Es gab nur einen Imperativ: arbeiten und aufbauen. Es gab nur ein soziales Gebot: sich selbst und dem Nachbarn helfen. Es gab nur eine Aussicht, die auf Besserung der Lage. Wir konnten schuften – das lag uns. Zunächst wollten wir Brot, um zu leben. Nachdenken mußte später kommen – so haben wir auch flugs die Zeit des Dritten Reiches verdrängt, aus unserem Bewußtsein einfach gestrichen.

 

Ein neues System bringt neuen Wohlstand

 

Als wir dann das Nachdenken zögernd aufnahmen, war es schon so weit, daß man uns wieder brauchte; wir durften zunächst ungläubig, dann um so erstaunter feststellen, daß unsere Arbeit uns wieder »zu jemandem« gemacht hatte. Und zudem feierten wir die zurückgewonnene Freiheit. Denn noch war die Drangsal der Diktatur nicht vergessen. Noch waren uns Gewalt und Terror, geistige und körperliche Unterdrückung gegenwärtig. Noch ließ die Erinnerung an das Ende jeder menschenwürdigen Existenz in den Jahren des braunen Spuks Bilder der Angst in uns entstehen.

Deshalb schufen wir mit Eifer ein neues System, setzten an die Stelle des Zwanges die Freiwilligkeit, an die Stelle des Volkes – ein Volk, ein Reich, ein Führer hatte es geheißen – den einzelnen. Für diesen einzelnen

und damit für jeden von uns wurde die Freiheit eine unmittelbare Erfahrung, die nicht nur nicht aufhören, sondern mit immer neuen Erlebnissen angereichert werden sollte. Wir wollten Freiheit von allem für alles. So durcheilten wir gleichsam berauscht den vor uns liegenden Raum der Möglichkeiten, der zwar für jeden verschieden groß und vielfältig, aber für alle chancenreich war. Es zu tun, waren wir legitimiert durch die Idee, daß das »Heil des Menschen in der unbefangenen Entfaltung aller seiner körperlichen, seelischen und geistigen Anlagen besteht«, und durch die Lehre, die freigesetzten menschlichen Bedürfnisse regulierten sich zwangsläufig durch das Zusammentreffen aller.

Zwar stand am Anfang dieser Idee von der vorgegebenen Harmonie auch Mißtrauen gegenüber. Ganz ohne regulierende Bindung sollte das Sich-Ausleben der Einzelinteressen nicht ablaufen dürfen. Wir schufen mit der Sozialen Marktwirtschaft ein ordnungspolitisches Modell, das die freie Initiative jedes ihrer Teilnehmer auf gemeinschaftsbezogene Spielregeln verpflichtete und sicherstellen sollte, daß Eigennutz den Gemeinnutz nicht gänzlich übersah.

Für die Aufbauphase hat das hervorragend geklappt, denn Eigennutz und Gemeinnutz bestanden ja gleichermaßen in der Wiedererlangung und Festigung der völlig verlorengegangenen materiellen Lebensgrundlage. Der ständig gestiegene Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten beweist, welche Kräfte seitdem freigesetzt worden sind.

Die geltende Ordnung stößt an ihre Grenzen

 

Aber offenbar ist damit nicht die ganze Rechnung aufgegangen. Wie anders wäre es zu erklären, daß unsere geltende Ordnung uns heute gefährdeter dünkt als vor Jahren, daß die erreichte soziale und materielle Sicherheit nicht ausreichte, diese Ordnung gegen den Ansturm immun zu machen, zu dem sich ihre Gegner innerhalb und außerhalb unserer Grenzen formieren.

Den ersten Schock hat unsere Begeisterung für die Freiheit wohl bekommen, als wir feststellen mußten, daß unser Liberalismus das Problem der Gerechtigkeit bisher nicht befriedigend zu lösen vermochte. Die höchst leistungsfähige soziale Marktwirtschaft hat aus sich selbst heraus keine breite Vermögensbildung bewirkt; sie hat den Sieg über materielle Not nicht gepaart mit der Unabhängigkeit von bevormundender Staatsversorgung; sie hat ganz offenbar noch keine Eigentumsordnung hervorgebracht, die den Einklang herstellt zwischen unveräußerlichen privaten Grundrechten und ebenso unabdingbaren Erfordernissen der Gesamtheit. Ja, sie hat nicht einmal für alle verständlich klar gemacht, worin eigentlich ihre Gerechtigkeitsvorstellungen bestehen. Nur der Erfolg der jeweils Geschäftstüchtigsten kann ja wohl keine ausreichende Legitimation sein.

Und ein zweiter Schock stellte sich ein, als wir erkannten – dieser Prozeß hält heute noch an -, daß unsere Wirtschaft in zunehmendem Maße eine Zivilisation hervorbringt, in deren Mittelpunkt ausschließlich die Produktion und Konsumtion von Gütern steht. Die Gefahr, in der wir uns ohne Zweifel befinden, ist gekennzeichnet durch die Tatsache, daß deshalb solche Güter, die keinen Marktwert haben, an den Rand der Wertskala geraten. Unsere Wirtschaft hat in sich noch keinen Raum entwickelt für Bedürfnisse, deren Befriedigung zwar Kosten verursacht, aber keine unmittelbaren Gewinne abwirft.

So sind wir in den Bannkreis der Umweltprobleme geraten und haben feststellen müssen, daß sich die Dinge auf den Kopf stellen: früher bedurfte der Mensch des Schutzes vor seiner Umwelt, heute ist es umgekehrt. Die gleiche Zivilisation, die es fertigbrachte, individuelle Not zu beseitigen, hat häufig kollektive Not heraufbeschworen; die gleiche Freiheit, die ungeahnte technisch-ökonomische Kräfte mobilisierte, hat nicht nur oftmals soziale gelähmt, sondern auch asoziale freigesetzt. Denken wir an die zunehmende Verrohung und Rücksichtslosigkeit, an die Brutalität, mit der Eigentum, Ehre, ja Leben mißachtet werden, an die hemmungslose Genußsucht. Vergegenwärtigen wir uns den moralischen Defekt, den die angeblich Fortschrittlichen als befreiende Bewußtseinserweiterung anpreisen.

Das Programm der Demokratie besteht nicht darin, daß sie Konflikte aus der Welt schafft, sondern darin, daß sie honorige Formen für ihre Austragung entwickelt.
Alfred Herrhausen

So tun sich allmählich auch Lücken in unserem Wertsystem auf, entstehen Unsicherheiten nicht nur im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Raum, sondern ebenso im moralisch-ethischen. Und das alles vor dem Hintergrund der weltweiten Auseinandersetzung mit einem Regime, dessen vorderster Posten in Sichtweite steht.

Ich wäre ein trauriger Vertreter meiner Generation, würde ich es bei dem besorgten Hinweis auf alles das, was unzulänglich ist in unserer Welt, belassen. Ich glaube fest an die Möglichkeit stetiger und allmählicher Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse – gerade weil unser Existenzminimum im großen und ganzen gesichert ist. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – insbesondere dann nicht, wenn er genug davon hat. Wir müssen uns jetzt mehr um die Dinge des Lebens kümmern, für die wir in den Aufbaujahren keine Zeit gehabt haben: Bildung, Gemeinsinn, persönliches Engagement, vernünftige Moral und moralische Vernunft, echte Autorität, Würde und gegenseitige Achtung. Es ist ein schwerer Dienst an der Freiheit – ein Dienst, den wir in allen Bereichen unserer Gesellschaft leisten müssen. Das ist die Probe, der keiner von uns entgeht.

Wir sollten einsehen, daß wir die Quellen, aus denen wir leben, nicht ständig überfordern dürfen. Man kann auf die Dauer nicht besser leben, als es die vorhandenen Ressourcen und produktiven Kräfte erlauben. Deshalb ist eine Demokratie, die das Gewähren immer größerer Gefälligkeiten zum System erhebt, auf falschem Wege. Am Ende steht nicht mehr, sondern weniger Wohlstand, erwarten uns – wie erwiesen – Inflation und statt Vermögensaufbau dessen Vernichtung.

 

Demokratie kann nicht für alle Bereiche der Gesellschaft gelten

 

Ebenso ernst muß die Gefahr beurteilt werden, daß die Forderung nach totaler Demokratisierung sich grenzenlos ausbreitet. Kein Zweifel in der Politik ist Demokratie das beste Mittel, die Rechte des einzelnen zu gewährleisten. Für andere Bereiche unserer Gesellschaft aber müssen wir doch wohl andere Strukturen entwickeln, Strukturen, in denen es nicht um Gleichmacherei des natürlicherweise Ungleichen, sondern um sinnvolle gegenseitige Ergänzung der Verschiedenheiten geht.

In der Armee, im Unternehmen, in der Universität, in der Familie gibt es nun einmal eine Kompetenzverteilung, die den einen, den jeweils Zuständigen, allen anderen gegenüberstellt, die eben für sein Gebiet nicht zuständig sind. »Die Egalität einer demokratischen Gesellschaftsverfassung besteht nicht darin, daß Rekruten die gleichen Entscheidungsbefugnisse haben wie Generäle und Arbeiter die gleichen wie Direktoren, sondern ausschließlich darin, daß ungeachtet der Zuständigkeitsunterschiede für die allgemeine politische Willensbildung die Meinung des einen nicht schwerer wiegt als die Meinung des anderen und vor dem Gesetz alle gleich sind. Sie besteht darin, daß der General nur als Militärspezialist und der Direktor nur als Betriebsfachmann mehr zu sagen hat als seine Untergebenen.« (Szczesny) Wäre es anders, so müssen wir mit der gleichen Kompetenz aller auch eine gleiche Verantwortung aller verordnen. Würde das funktionieren?

Wir sollten uns endlich einmal gegen die Sprachverwirrung wehren, die nur Gedankenverwirrung bloßlegt. Macht ist schließlich nicht gleich Machtmißbrauch und Autorität nicht gleich autoritär. Wer dies immerwährend behauptet, läuft Gefahr, mit der Forderung nach absoluter Gleichheit aller nur die Tyrannei einer radikalen Minderheit zu begründen, die dann erst recht unsere Gesellschaft in Herren und Knechte spaltet.

Wir sollten stattdessen mit allem Ernst die Bildungschancen verbessern – aber nicht dadurch, daß man Bildung, wie so vieles andere, zum billigen Konsumgut degradiert. Es geht darum, gleiche Möglichkeiten zu schaffen – nicht gleiche Ergebnisse. Fleißige und Begabte privilegieren sich selbst und verdienen den Lohn für ihre Leistung. Reformen, die Strebsamkeit als Entartungserscheinung verdächtig machen oder in der Folge die erworbenen Tüchtigkeitsunterschiede wieder einebnen, »demokratisieren«, führen sich selbst ad absurdum. Sie heben die Reserven nicht, die in unserem Volke stecken, sondern entmutigen sie, weil sie das Versprechen vermehrter Chancen letztlich nicht einlösen.

Das sogenannte Leistungsprinzip ist als unmenschlich und versklavend viel geschmäht worden. Gewiß, seine Auswüchse und wer wollte leugnen, daß es solche gibt – sind Perversionen. Aber können wir angesichts der Aufgaben, die unerledigt vor uns liegen, auf Leistung als Ausdruck gesunden Fleißes und Vorwärtsstrebens verzichten? Schon der Wohlstand, in dem wir leben, wäre nicht erreichbar gewesen, hätten wir dieses Ordnungs- und Antriebselement unserer Gesellschaft so verketzert wie manche, die seine Früchte gerne verzehren, es heute häufig tun. Um wieviel notwendiger bleibt es, wenn man erkennt, daß unser materielles Niveau labil ist, weil es offenkundig durch die Vernachlässigung von Schulen und Universitäten, Krankenhäusern und Altersheimen, des Straßenbaues und der Umwelthygiene bezahlt wurde. Hier liegt ein Nachholbedarf riesigen Ausmaßes, der die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit diejenige aller in ihr arbeitenden Menschen beanspruchen wird. Dabei sind die Erfordernisse der Entwicklungsländer, zu deren Auf- und Ausbau wir beitragen müssen, noch nicht einmal angesprochen. Und im übrigen: was nutzen uns alle Bestrebungen, zu einer breiteren Verteilung des Produktivvermögens zu kommen, wenn man eben dieses Produktivvermögen zur Absage an das Leistungsprinzip veranlassen will. Nein, wir dürfen uns nicht fürchten, gefordert zu werden, und wir brauchen es auch nicht – wenn wir uns durch Lernen zur Leistung befähigen.

Wir sollten auch keine Angst haben, uns gegen die Verängstigung zur Wehr zu setzen, die manche Gegner unseres Systems durch Terror und Gewalt praktizieren. Wie lange wird es sonst noch dauern, bis auch hierzulande ein Abendspaziergang zum Risiko wird? In den Städten kann man heutzutage sein Eigentum schon nicht mehr unbewacht lassen, ohne Verlust oder Beschädigung befürchten zu müssen. Hier ist der Ruf nach 25 Recht und Ordnung kein Rückfall in rechtsextreme Ideologien, sondern das natürliche und verständliche Verlangen nach den Bindungen in Freiheit, ohne die menschliches Zusammenleben nicht möglich ist.

Wir brauchen mehr Selbstdiziplin, Rücksicht und Ehrlichkeit in fast allen Lebenslagen. Ein Blick in unsere Umwelt macht deutlich, was ich meine: Die Straße entartet allmählich zum Tummelplatz von Aggressionstrieben, die Rastplätze der Feriengebiete zu Müllkippen und unsere Fußballstadien zum Hintergrund für eine Farce, die ein erkauftes Ergebnis für ein erspieltes ausgibt.

Das alles und vieles andere muß nicht sein und kann geändert werden. Nichts steckt in dem Bild, das ich gezeichnet habe, was Resignation rechtfertigt. Wir können die Gefahren überwinden und die Chancen ergreifen – wenn wir wach genug bleiben, um zu erkennen, daß in der freiesten Gesellschaft die Freiheit nun einmal am stärksten bedroht ist, weil sie auch denen Lebensraum gewährt, die gegen die Freiheit sind, so wie wir sie verstehen; und wenn wir mutig genug sind, Gegenkräfte zu entwickeln.

Der Tugendkatalog des Menschen muss neu entdeckt werden

 

Ich glaube, das fängt bei dem einzelnen an und hört bei dem einzelnen auf, allerdings in einem anderen Sinne als dem des hemmungslosen Egoismus. »Nomos« heißt Gesetz, autonomos – Autonomie demnach Selbstgesetz, Selbstbestimmung, aber auch Selbstbeschränkung.»Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl entstehen aus Verzichtsleistungen, die man aus eigener Kraft erbringt«, sagt Szczesny, und er fügt hinzu: »Mut ist Verzicht darauf, dem natürlichen Selbsterhaltungs-, Sicherheits- und Fluchttrieb zu folgen, Solidarität, Loyalität und Treue sind nichts anderes als eine Absage an unser natürliches Bestreben, die Bindung an andere zu lösen, sobald damit Nachteile und Opfer verknüpft sind, Aufrichtigkeit der Verzicht auf Verschweigen oder Schweigen, das zu bewahren uns die Vernunft eigentlich rät.«

Wir müssen diesen Tugendkatalog des Menschen neu entdecken oder wiederbeleben, und zwar jeder für sich. Hierin liegt die echte Chance, wirklich jemand zu sein, ganz gleich, wo einer steht. Konformismus dieser Art ist zu bejahen, denn er befähigt uns alle, Haltung zu zeigen und Widerstand zu leisten gegen vielerlei Zersetzungsversuche.

Es besteht wahrlich kein Grund, den Aufstand zu proben gegen diesen Staat, dem wir viel verdanken, oder den Umsturz des Systems zu planen, das immer noch mehr Freiheit, Gleichberechtigung und Entwicklungsmöglichkeiten bietet als jedes andere, dessen Angebot an materiellen und kulturellen Gütern so groß ist wie nie zuvor, seit Menschen leben.

Allerdings müssen wir eines erkennen und beherzigen: unsere Demokratie ist völlig unpathetisch – ohne Fahnen und Aufmärsche, sie ist als Staatsform schlicht und trivial, auf die fleißige Bewältigung immer neuer Alltagsfragen angewiesen. Sie lebt von der Balance zwischen Anspruch und Verzicht, Bindung und Freiheit. Ihr Programm besteht nicht darin, daß sie Konflikte aus der Welt schafft, wie es alle Ideologen von jeher erfolglos versprochen haben, sondern darin, daß sie honorige Formen für ihre Austragung entwickelt. Das ist der wirkliche Imperativ der Würde, mit der jeder von uns den erfolgreichen Fortbestand des Ganzen zu garantieren vermag.