So tun sich allmählich auch Lücken in unserem Wertsystem auf, entstehen Unsicherheiten nicht nur im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Raum, sondern ebenso im moralisch-ethischen. Und das alles vor dem Hintergrund der weltweiten Auseinandersetzung mit einem Regime, dessen vorderster Posten in Sichtweite steht.
Ich wäre ein trauriger Vertreter meiner Generation, würde ich es bei dem besorgten Hinweis auf alles das, was unzulänglich ist in unserer Welt, belassen. Ich glaube fest an die Möglichkeit stetiger und allmählicher Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse – gerade weil unser Existenzminimum im großen und ganzen gesichert ist. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – insbesondere dann nicht, wenn er genug davon hat. Wir müssen uns jetzt mehr um die Dinge des Lebens kümmern, für die wir in den Aufbaujahren keine Zeit gehabt haben: Bildung, Gemeinsinn, persönliches Engagement, vernünftige Moral und moralische Vernunft, echte Autorität, Würde und gegenseitige Achtung. Es ist ein schwerer Dienst an der Freiheit – ein Dienst, den wir in allen Bereichen unserer Gesellschaft leisten müssen. Das ist die Probe, der keiner von uns entgeht.
Wir sollten einsehen, daß wir die Quellen, aus denen wir leben, nicht ständig überfordern dürfen. Man kann auf die Dauer nicht besser leben, als es die vorhandenen Ressourcen und produktiven Kräfte erlauben. Deshalb ist eine Demokratie, die das Gewähren immer größerer Gefälligkeiten zum System erhebt, auf falschem Wege. Am Ende steht nicht mehr, sondern weniger Wohlstand, erwarten uns – wie erwiesen – Inflation und statt Vermögensaufbau dessen Vernichtung.
Demokratie kann nicht für alle Bereiche der Gesellschaft gelten
Ebenso ernst muß die Gefahr beurteilt werden, daß die Forderung nach totaler Demokratisierung sich grenzenlos ausbreitet. Kein Zweifel in der Politik ist Demokratie das beste Mittel, die Rechte des einzelnen zu gewährleisten. Für andere Bereiche unserer Gesellschaft aber müssen wir doch wohl andere Strukturen entwickeln, Strukturen, in denen es nicht um Gleichmacherei des natürlicherweise Ungleichen, sondern um sinnvolle gegenseitige Ergänzung der Verschiedenheiten geht.
In der Armee, im Unternehmen, in der Universität, in der Familie gibt es nun einmal eine Kompetenzverteilung, die den einen, den jeweils Zuständigen, allen anderen gegenüberstellt, die eben für sein Gebiet nicht zuständig sind. »Die Egalität einer demokratischen Gesellschaftsverfassung besteht nicht darin, daß Rekruten die gleichen Entscheidungsbefugnisse haben wie Generäle und Arbeiter die gleichen wie Direktoren, sondern ausschließlich darin, daß ungeachtet der Zuständigkeitsunterschiede für die allgemeine politische Willensbildung die Meinung des einen nicht schwerer wiegt als die Meinung des anderen und vor dem Gesetz alle gleich sind. Sie besteht darin, daß der General nur als Militärspezialist und der Direktor nur als Betriebsfachmann mehr zu sagen hat als seine Untergebenen.« (Szczesny) Wäre es anders, so müssen wir mit der gleichen Kompetenz aller auch eine gleiche Verantwortung aller verordnen. Würde das funktionieren?
Wir sollten uns endlich einmal gegen die Sprachverwirrung wehren, die nur Gedankenverwirrung bloßlegt. Macht ist schließlich nicht gleich Machtmißbrauch und Autorität nicht gleich autoritär. Wer dies immerwährend behauptet, läuft Gefahr, mit der Forderung nach absoluter Gleichheit aller nur die Tyrannei einer radikalen Minderheit zu begründen, die dann erst recht unsere Gesellschaft in Herren und Knechte spaltet.
Wir sollten stattdessen mit allem Ernst die Bildungschancen verbessern – aber nicht dadurch, daß man Bildung, wie so vieles andere, zum billigen Konsumgut degradiert. Es geht darum, gleiche Möglichkeiten zu schaffen – nicht gleiche Ergebnisse. Fleißige und Begabte privilegieren sich selbst und verdienen den Lohn für ihre Leistung. Reformen, die Strebsamkeit als Entartungserscheinung verdächtig machen oder in der Folge die erworbenen Tüchtigkeitsunterschiede wieder einebnen, »demokratisieren«, führen sich selbst ad absurdum. Sie heben die Reserven nicht, die in unserem Volke stecken, sondern entmutigen sie, weil sie das Versprechen vermehrter Chancen letztlich nicht einlösen.
Das sogenannte Leistungsprinzip ist als unmenschlich und versklavend viel geschmäht worden. Gewiß, seine Auswüchse und wer wollte leugnen, daß es solche gibt – sind Perversionen. Aber können wir angesichts der Aufgaben, die unerledigt vor uns liegen, auf Leistung als Ausdruck gesunden Fleißes und Vorwärtsstrebens verzichten? Schon der Wohlstand, in dem wir leben, wäre nicht erreichbar gewesen, hätten wir dieses Ordnungs- und Antriebselement unserer Gesellschaft so verketzert wie manche, die seine Früchte gerne verzehren, es heute häufig tun. Um wieviel notwendiger bleibt es, wenn man erkennt, daß unser materielles Niveau labil ist, weil es offenkundig durch die Vernachlässigung von Schulen und Universitäten, Krankenhäusern und Altersheimen, des Straßenbaues und der Umwelthygiene bezahlt wurde. Hier liegt ein Nachholbedarf riesigen Ausmaßes, der die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit diejenige aller in ihr arbeitenden Menschen beanspruchen wird. Dabei sind die Erfordernisse der Entwicklungsländer, zu deren Auf- und Ausbau wir beitragen müssen, noch nicht einmal angesprochen. Und im übrigen: was nutzen uns alle Bestrebungen, zu einer breiteren Verteilung des Produktivvermögens zu kommen, wenn man eben dieses Produktivvermögen zur Absage an das Leistungsprinzip veranlassen will. Nein, wir dürfen uns nicht fürchten, gefordert zu werden, und wir brauchen es auch nicht – wenn wir uns durch Lernen zur Leistung befähigen.
Wir sollten auch keine Angst haben, uns gegen die Verängstigung zur Wehr zu setzen, die manche Gegner unseres Systems durch Terror und Gewalt praktizieren. Wie lange wird es sonst noch dauern, bis auch hierzulande ein Abendspaziergang zum Risiko wird? In den Städten kann man heutzutage sein Eigentum schon nicht mehr unbewacht lassen, ohne Verlust oder Beschädigung befürchten zu müssen. Hier ist der Ruf nach 25 Recht und Ordnung kein Rückfall in rechtsextreme Ideologien, sondern das natürliche und verständliche Verlangen nach den Bindungen in Freiheit, ohne die menschliches Zusammenleben nicht möglich ist.
Wir brauchen mehr Selbstdiziplin, Rücksicht und Ehrlichkeit in fast allen Lebenslagen. Ein Blick in unsere Umwelt macht deutlich, was ich meine: Die Straße entartet allmählich zum Tummelplatz von Aggressionstrieben, die Rastplätze der Feriengebiete zu Müllkippen und unsere Fußballstadien zum Hintergrund für eine Farce, die ein erkauftes Ergebnis für ein erspieltes ausgibt.
Das alles und vieles andere muß nicht sein und kann geändert werden. Nichts steckt in dem Bild, das ich gezeichnet habe, was Resignation rechtfertigt. Wir können die Gefahren überwinden und die Chancen ergreifen – wenn wir wach genug bleiben, um zu erkennen, daß in der freiesten Gesellschaft die Freiheit nun einmal am stärksten bedroht ist, weil sie auch denen Lebensraum gewährt, die gegen die Freiheit sind, so wie wir sie verstehen; und wenn wir mutig genug sind, Gegenkräfte zu entwickeln.
Der Tugendkatalog des Menschen muss neu entdeckt werden
Ich glaube, das fängt bei dem einzelnen an und hört bei dem einzelnen auf, allerdings in einem anderen Sinne als dem des hemmungslosen Egoismus. »Nomos« heißt Gesetz, autonomos – Autonomie demnach Selbstgesetz, Selbstbestimmung, aber auch Selbstbeschränkung.»Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl entstehen aus Verzichtsleistungen, die man aus eigener Kraft erbringt«, sagt Szczesny, und er fügt hinzu: »Mut ist Verzicht darauf, dem natürlichen Selbsterhaltungs-, Sicherheits- und Fluchttrieb zu folgen, Solidarität, Loyalität und Treue sind nichts anderes als eine Absage an unser natürliches Bestreben, die Bindung an andere zu lösen, sobald damit Nachteile und Opfer verknüpft sind, Aufrichtigkeit der Verzicht auf Verschweigen oder Schweigen, das zu bewahren uns die Vernunft eigentlich rät.«
Wir müssen diesen Tugendkatalog des Menschen neu entdecken oder wiederbeleben, und zwar jeder für sich. Hierin liegt die echte Chance, wirklich jemand zu sein, ganz gleich, wo einer steht. Konformismus dieser Art ist zu bejahen, denn er befähigt uns alle, Haltung zu zeigen und Widerstand zu leisten gegen vielerlei Zersetzungsversuche.
Es besteht wahrlich kein Grund, den Aufstand zu proben gegen diesen Staat, dem wir viel verdanken, oder den Umsturz des Systems zu planen, das immer noch mehr Freiheit, Gleichberechtigung und Entwicklungsmöglichkeiten bietet als jedes andere, dessen Angebot an materiellen und kulturellen Gütern so groß ist wie nie zuvor, seit Menschen leben.
Allerdings müssen wir eines erkennen und beherzigen: unsere Demokratie ist völlig unpathetisch – ohne Fahnen und Aufmärsche, sie ist als Staatsform schlicht und trivial, auf die fleißige Bewältigung immer neuer Alltagsfragen angewiesen. Sie lebt von der Balance zwischen Anspruch und Verzicht, Bindung und Freiheit. Ihr Programm besteht nicht darin, daß sie Konflikte aus der Welt schafft, wie es alle Ideologen von jeher erfolglos versprochen haben, sondern darin, daß sie honorige Formen für ihre Austragung entwickelt. Das ist der wirkliche Imperativ der Würde, mit der jeder von uns den erfolgreichen Fortbestand des Ganzen zu garantieren vermag.